Jeanette wartete gespannt, wie es weitergehen würde. Sie hatte von der Amputation kaum etwasgespürt, nur die Versuche, das Hüftgelenk auseinander zu nehmen. Dabei war ihr Körperinsgesamt mit bewegt worden. Den letzten Schnitt durch die Rückseite hatte sie kaum bemerkt,doch ansonsten, soweit es von ihrer Position aus ging, alles genau beobachtet. Sie konnte eskaum fassen – endlich! Hatte sie zunächst Angst vor Schmerzen gehabt, wollte sie nun bei derAbnahme ihres zweiten und letzten Beines mehr darauf achten, ob sie nicht doch etwas fühlt. Eswürde ja das unwiederbringlich letzte Mal sein. Und Christoph hatte gar nicht seineGummihandschuhe an. Zu gern hätte sie seine Berührungen jetzt wahrgenommen. Sie dachtedaran, dass sie nie wieder spüren würde, wenn er ihre Beine anfasst, jedenfalls nicht mit ihrenirdischen Sinnen. So bekam sie einen Anflug von Wehmut, die aber bald wieder dem Bewusstseinwich, jetzt etwas absolut Einmaliges zu erleben. Sie bereute nichts, nicht ihre Entscheidung zurAbnahme der Beine, auch nicht ihre Entscheidung zur regionalen Betäubung. Im Gegenteil, wennsie doch nur ein ganz kleines bisschen weniger wirksam wäre…Im selben Augenblick fragte der Anästhesist, ob er die Betäubung verlängern solle, der HerrKollege würde sich doch etwas mehr Zeit nehmen, was er im übrigen sehr gut verstehe… Vielleichthätte man doch lieber…Jeanette fragte schnell, was das denn bedeutete, worauf er antwortete: „Es könnte sein, dass dieNarkose nachlässt, bevor das linke Bein ganz ab ist.“„Dann lassen sie es bitte, wie es ist – es macht mir nichts aus!“, – das war wieder dieselbstbewusste Jeanette, ihre dunklen Gedanken wegwischend.Der Anästhesist war skeptisch ob dieser Leichtfertigkeit, nickte aber angesichts der ohnehinbesonderen Situation: „Ist in Ordnung, aber falls Sie es sich anders überlegen sollten… ich meine,es ist recht umständlich, mit einem halb abgeschnittenen Bein noch mal eine Spritze in denRücken zu geben. Und denken sie an die postoperativen Schmerzen!“Jeanette wollte nicht daran denken. Der Augenblick, der war ihr jetzt wichtig, denn noch nie hattesie so intensiv Gegenwart erlebt. Inzwischen war Christoph auf die andere Seite des Tischesgegangen. Wie zuvor das rechte, wurde nun das linke Bein hoch gelagert und etwas gewartet,damit das Blut wenigstens zu einem gewissen Teil zurück fließen konnte. Dabei ruhte die linkeHand des Chirurgen unter dem Unterschenkel. Zwischendurch erfühlte er den Puls an derschlanken Fessel. Sein Blick erfasste jedes Detail dieses von der Natur bis ins letzte mitvollendeter Schönheit begnadeten langen gesunden Beines.Kaum sein Behagen verbergend, fuhr er mit der Hand vom Fuß langsam über das ganze Bein biszum Oberschenkel, unter dessen sich langsam abkühlender Haut noch die Wärme des Mädchenswar, dass nun seit knapp einer Stunde auf dem Operationstisch lag. In der Leistenbeuge wurde erwiederum des Pulses gewahr, der dort gleich nicht mehr schlagen würde.Entschlossen nahm er wieder ein Skalpell und schnitt in die Haut in der Beuge, nachdem erheimlich genussvoll zugesehen hatte, wie dieser Bereich ein letztes Mal desinfiziert wurde. Weil esnun die linke Seite war, setzte er es an der Innenseite an und spaltete die zarte Haut in einem Zugbis zur Spitze des Beckenknochens. Dann umfasste er mit seiner linken Hand den Oberschenkelund durchschnitt von der Unterseite her ab dem Anfang des ersten Schnittes die Haut in der Falte,die die Trennlinie zwischen Gesäß und Bein darstellte.Mit ein bisschen Einbildungskraft konnte Jeanette, unterstützt von dem, was sie bisher gesehenhatte und jetzt sehen konnte, die Berührungen von Christoph er-spüren. Sie stellte sich das Gefühlvor, wie das Messer in das Fleisch ihres Beines eindrang – eine Vorstellung, die sie zuweilentrainiert hatte. Wie auf der rechten Seite, aber diesmal von oben nach unten, wurde an derAußenseite ein geschwungener Hautschnitt ausgeführt, der die Schnittlinie um das Beinkomplettierte.Man konnte nun schon eindeutig erkennen, wo und wie das Bein abkommen würde, bis wohinganz genau die jeweiligen Teile von Jeanettes Körper gehen würden und wie es dann sein würde:Jeanette ohne auch nur den winzigsten Rest eines Beines, und auf der anderen Seite einvollständiges linkes Bein ohne irgendeinen Verlust – genau wie das rechte, das dort schon lag.Für einen winzigen Moment gab sich der Chirurg diesen Gedanken hin, während dasverhältnismäßig spärlich fließende Blut von der Schwester abgetupft wurde. Dann, nachdem ernach dem Eröffnen der Operationswunde die Hauptarterie und die Vene unterbunden unddurchgeschnitten hatte, meinte Jeanette doch immer deutlicher, etwas zu spüren. Sie hielt still, weilsie davon noch mehr haben mochte. Es tat auch nicht eigentlich weh, doch meinte sie trotzteilweise bereits gekappter Nerven zu fühlen, wie nun ihr Freund das Fleisch durchschnitt unddazu das Bein manches mal ein wenig drehte. Den Versuch, das Bein zu bewegen, wagte sienicht. Es war alles mehr eine Ahnung als ein konkretes Gefühl, und ihr war auch verstandesmäßigklar, dass sie, selbst wenn sie wollte, es schon deshalb gar nicht mehr bewegen konnte, weilschon so viele der wichtigen Muskeln und Nerven nicht mehr funktionstüchtig sein dürften. Stückfür Stück waren sie mobilisiert worden, durchtrennt und zur jeweiligen Seite geschlagen – mit dereinen Seite zum verbleibenden Körper des Mädchens, zur anderen Seite zum inzwischen halbabgeschnittenen Bein hin.Schließlich war die Hüftgelenkkapsel erreicht. Es ging diesmal etwas leichter, das Gelenk zu lösen.Der Einschnitt in die Kapsel war von Christoph etwas komfortabler als bei der ersten Amputationvorgenommen worden. So drehte er selbst mit festem Griff das Bein ein paarmal um seine eigeneAchse hin und her, fasste mit der linken Hand unter den Schenkel ganz dicht unter dem Einschnitt,drückte ihn hoch, nahm mit der rechten Hand wieder den Haken und zog den Schenkelkopf ausder Hüftpfanne. Einige Fasern galt es noch zu durchtrennen, dann war wieder das große Messeran der Arbeit und löste, sicher geführt durch Christophs Hand, das Fleisch auf der Rückseite desBeines. Ein paarmal mit dem Messer hin und her, und schon war auch dieses Bein vollständigabgetrennt.„Und Nummer zwei!“, war der Ruf des Arztes, und diesmal hielt er es Jeanette, die noch trotzBeruhigungsmittel mit klopfendem Herzen den letzten Zügen des Amputationsmessers durch ihrFleisch nachsann, hin, ob sie es mal anfassen möchte.Und sie nahm mit beiden Händen den Unterschenkel, während Christoph das abgeschnittene Beinam Oberschenkel festhielt, der leicht unter dem Griff seiner Hände nachgab.„Es ist gar nicht anders als vorher – es ist eben ein Bein!“, staunte Jeanette.„Das ist ja das wunderbare!“, sagte leise der Chirurg und legte es zu dem anderen, das bereitslangsam abgekühlt war. Und schon war er wieder bei der nun Beinlosen Jeanette, um das linkePobäckchen dort anzunähen, wo der Schnitt zur Amputation einst begann. Es sah sehr gut aus,die Amputationen waren wunschgemäß sehr symmetrisch gelungen.„Wenn es verheilt ist und wir vielleicht die Narbe noch mal behandeln, wird es so sein, als hättestdu nie Beine gehabt.“ „Aber ich werde mich daran erinnern, schon allein deinetwegen! Und dasOP-Video, wo alles zu sehen ist, wie du heute meine Beine abgemacht hast, das möchte ich auchgern haben und bestimmt noch oft ansehen. Übrigens, aber das hattest du dir ja schon gedacht,ich wollte es bloß nochmal sagen – die Beine kannst du wirklich gern behalten. Gehe aber gut mitihnen um, schließlich habe ich mir soviel Mühe gegeben mit diesen 20 kg!“Christoph sah Jeanette tief in die Augen und freute sich wie ein kleines Kind. Beide blickten derSchwester hinterher, die inzwischen den Wagen mit den beiden abgenommenen Beinen zumAusgang schob. Dort hätte sie jemanden fast umgefahren. Hinter der Tür hatte sich nämlich Martinversteckt, der der ganzen Aktion nahe sein wollte. Er hatte durch die Glasscheibe zugesehen,ohne dass es jemand im OP-Saal bemerkt hätte. Und nun starrte er auf die beiden abgetrenntenBeine, die etwas beschmutzt, nackt und hilflos auf dem zu kleinen Wagen lagen, vorläufig auf demWeg zur Pathologie, wo eigentlich nur Totes hinkam. Und doch, zu seinem Erstaunen, auch erfand, dass sie so sehr schön seien.Dann löste sich sein Blick von den Mädchenbeinen und wandte sich dem Mädchen ohne Beine
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Hinzugefügt: 6 Jahren vor