„Zweiundzwanzig. Und du?“ „Dreißig. Im August werde ich einunddreißig. Sag bitte, Lidia, schläfst du mit ihm?“, fragte Sandra und blickte dabei durch den Raum, bloß nicht zu Lidia, sie wollte nicht von ihrem Blick aufgefressen werden. Sie hatte sogar Angst, ihr in die Augen zu schauen, sie verstand selbst nicht, was in ihr vorging.„Hin und wieder, ja.“ Lidia sah die Eifersucht erneut in Sandras Augen aufblitzen. „Du bist doch verheiratet. Egal, mach dir keine Sorgen. Er schwärmt noch immer von dir.“ Sandra wunderte sich, wie wichtig ihr diese Informationen doch waren. Es passte irgendwie nicht. „Ich komme meist für circa zwei Stunden, an drei bis vier Tagen die Woche, manchmal öfter, selten weniger. Er zahlt mir fünfundzwanzig die Stunde. Er vertraut mir blind, zahlt jede meiner Zeitangaben. Vielleicht überwacht er es auch mit seiner Elektronik, keine Ahnung. Es ist so eine Art ‚All inclusive‘.“„Ich soll mir keine Sorgen machen? Du bist mit ihm intim!“, entgegnete Sandra, die mittlerweile völlig durcheinander war und eine Eifersucht spürte, aber gar nicht mehr wusste, ob es sich auf Dennis oder Lidia bezog. Oder beide.„Er steht auf dich, mit mir hat er nur Sex. Ich könnte ihn, glaube ich, niemals lieben. Und außerdem“, fuhr Lidia fort, „stehe ich eher auf Frauen. Und auf dich ganz besonders.“ Frei und ohne Umschweife, knallte sie es Sandra an den Kopf. Sandra sog die Luft ein und das Blut schoss in ihren Kopf, sie wurde rot wie eine Tomate. Lidia machte sie mit einem wissenden und verlangenden Blick so verlegen, dass sie im Erdboden verschwinden wollte.Sandra wandte sich ab und widmete sich wieder ihrem Kind, gab sich beschäftigt und spielte mit Johanna, die sie auf die Couch gelegt hatte. Lidia setzte sich zu ihr, so dass Sandra am Kopf des Kindes und Lidia zu ihren Füßen saß. Obwohl gut ein halber Meter zwischen ihnen lag, spürte Sandra ihre Anwesenheit und ihre Härchen am Arm stellten sich auf.„Ist die aber niedlich.“, sagte Lidia und krabbelte Johannas Bäuchlein, „Wie heißt sie denn?“„Sie heißt Johanna.“, und ihre Stimme konnte nicht verbergen, wie sie diese Frage nervte.„Ein schöner Name. Gefällt mir.“„Jaja, superschön.“„Stimmt was nicht?“„Sie trägt den Namen der großen Liebe meines Mannes. Gestern habe ich es erfahren und deshalb bin ich ausgezogen, hierher. Ich fühle mich so schmerzhaft betrogen.“„Hat doch alles sein Gutes.“„Was?“, hakte Sandra nach, „wie meinst du das?“ Die Enttäuschung, dass Lidia sie verletzte, stand ihr ins Gesicht geschrieben.„Sonst hätte ich dich nicht kennengelernt, ich hätte dich verpasst. Und es noch nicht einmal gewusst. Schau doch nicht so schockiert. War lieb gemeint, okay? Ich muss jetzt los, hab noch weitere Kunden, die ich besuchen muss. Ich muss halbwegs im Zeitplan bleiben.“Sandra nickte, legte Johanna auf die bunte Kuscheldecke am Boden und begleitete Lidia zur Wohnungstür. Um ihr Kleid zu wechseln zog Lidia das kleine, silberne aus und Sandra stockte der Atem beim Anblick ihres Leibes. Sie trug also kein Höschen drunter und war rasiert. Sandra war wie erstarrt und brachte kein Wort heraus, während Lidia einen Schlüpfer und einen Büstenhalter anzog, darüber ein längeres, schwarzes Kleid und das silberne in ihre Handtasche zwang.„Bist du übermorgen wieder hier, gleiche Uhrzeit?“, fragte Lidia.„Bietest du dein ‚All-inclusive‘ allen Kunden?“„Um Gottes willen, nein, das darfst du nicht von mir denken!“ Lidias Augen wurden feucht, aber sie blieb tapfer und weinte nicht. Sandra bemerkte ihr Leid, sie spürte förmlich die Emotionen und hasste sich dafür, diesen traurigen Blick ausgelöst zu haben.Sandra nahm sie in den Arm. „Tut mir leid, ich kenne dich doch fast gar nicht. Es tut mir leid.“ Sie hatte Lidia nicht wehtun wollen. Sie kam sich dumm vor, wie konnte ihr so etwas passieren? Sie stammelte: „Ich … ich … werde übermorgen hier sein.“Sie hatte beinahe ich „Ich liebe dich“ gesagt, sie wusste es und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie hatte eine Familie und wollte einer noch fast Zwanzigjährigen ihre Liebe gestehen, zum Glück hatte sie es im letzten Moment realisiert und etwas anderes gesagt.Sie nahm Lidia in den Arm und küsste ihre Tränen und ihre Lippen zärtlich. Sie spürte eine neue Freiheit und dachte an Felix. Die Erinnerungen waren fast schon aus einer anderen Welt. Die Lippen Lidias schmeckten in einer Weichheit, die das Paradies versprachen. Sie verabschiedeten sich bedeutungsvoll, jede wollte die andere, und Sandra freute sich insgeheim, ihre Trennung von Felix, unter den gegebenen Umständen, vor jeglichen Instanzen, moralisch so gut rechtfertigen zu können. Um sich in Lidias Arme fallen zu lassen.Später kam Dennis nach Hause und Sandra hatte Abendessen vorbereitet, das sie nach seiner Ankunft kochte. Während des Essens sprachen sie wenig, Sandra schob ihre Beklemmungen wegen ihres zerstörten Familienglücks vor und er konnte das gut nachvollziehen, eventuelle Empathie zeigte er allerdings nicht.Der wirkliche Auslöser für Sandras Niedergeschlagenheit erschreckte sie selbst. Beim Gedanken daran, wie Dennis und Lidia es miteinander tun, fuhr ein Dolch in ihr Herz. Sie gönnte Dennis weder ‚ihre‘ Lidia noch umgekehrt. Aber der Gedanke, ganz außen vor zu sein, während sich die beiden vergnügten, war schmerzhaft wie eine Folter. Es hatte etwas von ‚Alle haben Alles und ich habe Nichts‘. Rasende Eifersucht nagte an ihrem Verstand. Dieser Tag verstörte sie mehr und mehr.Dann dachte sie wieder an ihren Mann Felix. Was fühlte sie noch für ihn? Vor gerade einmal achtundvierzig Stunden hatte sie als kleine Familie fröhlich miteinander zu Abend gegessen. Sie dachte über Felix nach. Sportlich, stämmig, groß mit rostbraunem Haar und vielen Sommersprossen. Er war ein Klugscheißer, aber da stand sie ja offensichtlich drauf. So war er auch auf der Arbeit, immer wieder hatte er ihr berichtet, wie er die Fehler anderer Manager suchte, um sie in seinen eigenen Präsentationen, wenig heimlich, aber auch nicht allzu offensichtlich, dafür zu zerreißen.‚Japanische Technik‘ pflegte er seine Taktiken und Strategien zu nennen. ‚Wie beim Judo die Schwungmasse des Gegners nutzen‘ konnte aus seiner Sicht für alle Konflikte genutzt werden, nicht nur für körperliche. Überhaupt liebte er Japan und seine Kultur, obwohl er es nicht einmal besucht hatte. Mancher Gegenstand in ihrem Haus hätte auch gestandene Japanologen fasziniert.Sie fragte sich, ob sie noch etwas für ihn empfand. Als sie sich so den Kopf zerbrach, kam sie zu dem Schluss, dass sie noch ein klärendes Gespräch mit Felix suchen musste. Sie rief ihn an und er klang erleichtert. Er habe mit niemanden anderen als ihr selbst darüber reden wollen, erklärte er ihr. Wortkarg bestätigte er den Namensursprung ihrer gemeinsamen Tochter Johanna. Sie verabredeten sich für Donnerstag um neunzehn Uhr um dann gemeinsam ein Restaurant aufzusuchen. Irgendetwas in seiner Stimme war ihr unheimlich. In der Nacht plagten sie Alpträume. Alice stand vor ihr auf dem Teppich und wandte sich ihr plötzlich zu. Es war gar nicht Alice, sondern Lidia. „Gibst du mir für fünfhundert dein Kind?“, fragte sie unheimlich. Dann kam Felix dazu, sie machten es auf dem Teppich, wie Alice und Samuel. Sandra fand ihr Kind nicht mehr. Dann sah sie Johanna auf seinem Arm und wie er mit Lidia durch die Tür verschwand. Schweißgebadet erwachte sie und griff nach Johanna. Diese schlief tief und fest.MedienMüde frühstückte sie mit Dennis, der sich nach dem Essen auch direkt verabschiedete. Lidia würde heute nicht kommen, erst morgen wieder, und Sandra merkte, wie es sie ärgerte. Schmerzte. Sie spürte ihre Sehnsucht und als die Kleine endlich schlief, war sie schneller im Arbeitszimmer, als sie selbst es für möglich gehalten hätte. Enttäuscht stellte sie fest, dass alle Geräte abgeschaltet waren, darunter auch der Rechner und die damit verkabelte Brille.Ohne Hemmungen rief sie Dennis an und bat um Anweisung, wie sie das Ding zum Laufen bekommen konnte. Er rief etwa fünfzehn Minuten später zurück und ging mit ihr die notwendigen Schritte durch. „Als letzten Schritt musst du in den Ordner ‚Sequenzen‘ wechseln, dann in den Ordner ‚Sex‘ und dort wählst du ‚Alice in the sky‘ aus, dann bestätigst du. Das kannst du doch schon, oder?“„Haha, sehr witzig. Habe es kapiert. Sonst was zu beachten?“„Pass auf beim Herumlaufen. Und beachte die Startposition und die Hinweise am Anfang, wenn du ein anderes Programm wählst, okay?“„Roger, Houston. Wenn es nicht läuft, schmeiße ich das Ding an die Wand. Gut so, Mr. Spock?“„Viel Spaß!“ Er legte auf.Sie klickte sich durch und da sie Alice kannte, so geil wie das Ding war, war etwas Neues noch viel aufregender. ‚100 Typen — eine Frau‘, ‚Gefesselt und bestraft‘ und ‚Lesbischer Dreier mit Anpissen‘ waren nur drei von unzähligen Titeln. Trotzdem wechselte sie noch einmal in den höheren Ordner mit den Kategorien.‚Architektur‘ hieß der erste, sie überflog es ‚Horror‘ klang interessant und dann, fast ganz unten ‚Tiere‘. Sie wählte diesen Ordner und überflog die Titel. Sie wählte ‚Löwen 01′ und bestätigte. Das Startmenü wies sie in den Schneidersitz und riet von Bewegungen ab. Dann ging es los.Wunderschön stand die Sonne tief am Himmel und tauchte die Landschaft in leuchtendes Orange. Die Löwen fraßen an zwei Gazellen oder Impalas oder ähnlichem Getier, sie wusste es nicht. Die Tüpfelhyänen näherten sich immer wieder in ihrer Gier. Die Szene spielte an einer winzigen Wasserstelle, sie schätzte den Durchmesser des modrigen Tümpels auf höchstens zehn Meter. Sie war am anderen Ufer, trotzdem waren die Wildtiere ungemein nah. Das Männchen saß direkt an dem größeren Beutetier und verteidigte die es, nur einigen Weibchen ließ er kleine Portionen zukommen. Dann erhob er sich plötzlich und schien Sandra direkt in die Augen zu schauen, ihr Herz schlug schnell und schneller unter dem Blick der Raubkatze, deren Gesicht vom Rot des Blutes getränkt war. Unruhe machte sich bei den Tieren breit und einer lief los und die anderen Tiere folgten und liefen weg. Sie flüchteten. Aber vor was nur? Sie drehte den Kopf und erblickte den Tyrannosaurus Rex, der nun schnell auf sie zukam und brüllte, dass ihre Ohren schmerzten. Sie wollte weg und fiel auf die Seite, die Illusion war gigantisch und bevor die Echse bei ihr war, hatte sie ‚Stopp‘ gedrückt. Sie war völlig außer Atem.Verwundert schaute sie sich um. Die Eindrücke waren so stark, sie hatten einen so immensen Nachhall in ihrem Kopf, dass sie erst einmal realisieren musste, wo sie überhaupt war. Beim Gedanken an die Löwen und das längst ausgestorbene Tier bekam sie nochmals eine Gänsehaut. Sie schaute nach Johanna, die noch immer ruhig schlief. Sie vergegenwärtigte sich ein weiteres Mal die „echte Realität“ und trank einen Schluck. Dann markierte sie ‚Löwen 02′, den sie ebenfalls im Schneidersitz startete.Eine unglaubliche Lärmkulisse in der hellen Sonne. Sie saß auf dem Sand und keine drei Meter von ihr entfernt saß eine Frau, ebenfalls im Schneidersitz. Sie hielt ein Kind im Arm von ähnlicher Größe wie ihre eigene Tochter. Es war in weißes Tuch gehüllt und Sandra konnte unmöglich bestimmen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte. Sie staunte, wie klein die Arena war und wie hoch und groß der restliche Teil des Kolosseums auf sie wirkte. Die Gitter schwebten scheppernd nach oben und die Löwen jagten aus ihren Gefängnissen. Das Johlen der Massen auf den Rängen nahm zu. In nur wenigen Sekunden war das Männchen da und lief direkt an Sandra vorbei, hin zu der Frau mit dem Kind. Sandra meinte, den Löwen riechen zu können, ihr Zeigefinger lag bereits auf dem Knopf, der dieses Szenario beenden konnte. Eine Löwin folgte dem stattlichen Anführer, sie schlich so nah an Sandra vorbei, dass sie die Löwin mit ihren Händen berühren könnte. Das männliche Tier holte aus und hieb mit seiner Pfote kräftig gegen den Kopf der Frau, es gab ein hässliches Krachen und die Frau fiel auf die Seite. Das Baby rutschte aus ihren Armen und landete grob auf dem sandigen Boden. Der Löwe biss in den Hals der Frau und schüttelte sein Opfer, dumpf zappelte der Körper der Frau im Sand und ihre Knochen knirschten hell. Die Löwin nahm das Kind am Nacken und warf es hin und her, um sich mit dem kleinen Leichnam eine ruhige Stelle zu suchen. Wie eine schlaffe Stoffpuppe hing es im Maul des Tieres, das sich anmutig und schuldlos entfernte. Sandra drückte ‚Stopp‘.Wer will so etwas sehen?, fragte sie sich. War das die Zukunft der Technik, immer echter und grauenhafter Tod und Folter darstellen zu können? Sie verwarf sämtliche Pläne, weitere Szenarien zu testen und suchte die Toilette auf. Sie übergab sich, das Knirschen des kleinen Körpers durch das Schütteln der Löwin fraß sich wie ein Schmarotzer in ihr Gehirn.Sie eilte zu ihrem Kind und musste sich ihrer Unversehrtheit vergewissern. Obwohl Johanna schlief, legte sie ihre Hand auf die Stirn der Kleinen, um ihre Wärme zu spüren und roch in ihrer Halsgrube. Die Erlebnisse, die vorgegaukelten, verwirrten sie mittlerweile in einem Maße, dass sie ängstige. Sie nahm sich vor, die Brille nicht mehr zu nutzen. Und Dennis die Meinung zu geigen.Sie musste auf ganz andere Gedanken kommen, Johanna würde noch eine Weile schlafen. Sandras Reise in das Blendwerk war kürzer ausgefallen, als es sich für sie anfühlte, gute zwanzig Minuten hatte sie insgesamt im Arbeitszimmer verbracht. Keinesfalls wollte sie den Fernseher anmachen, sie hatte genug der modernen Medien. Sie entschied sich, mal wieder das Bücherregal unter die Lupe zu nehmen.Ihr war schon vorher aufgefallen, dass er seine Bücher offensichtlich nicht sortierte, sie fing links oben an, nicht ganz oben, da hätte sie eine Leiter gebraucht, das Bücherregal war eine mächtige, funktionelle Wand eines bekannten und edlen Herstellers. Ganz links, viertes Fach von oben, fing sie an, die bunten Rücken zu studieren.‚Shantaram‘, kannte sie, sie fand es mehr als gut, aber sie las nie ein Buch, zumindest der Belletristik, ein zweites Mal. ‚Der Minus-Mann‘, ihr fröstelte beim Gedanken daran. Jedes Mal, wenn sie an dieses Buch dachte oder es sah, musste sie an die Frau, die nach Düsseldorf sollte, denken. Und was wohl aus ihr geworden ist. ‚Die Geschichte der O.‘, Faszination und Erregung durchliefen sie beim Gedanken, wie sie es als junge Frau gelesen hatte. Es war lange her, sie brachte die Geschichte nicht mehr richtig zusammen, aber in ihren Gedanken war das Buch traurig, wie die Frau hin- und hergereicht wurde und sich trotzdem ausschließlich verbat, mit ihr mitleidig zu sein.‚Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort‘, endlich ein Titel, den sie nicht kannte. Es war recht dünn und sie setzte sich damit nah zu Johanna. Sie plante, wenn Johanna aufwachte, auf jeden Fall einen größeren Ausflug zu machen, in einen weitläufigen Park vielleicht, ihr stand der Sinn nach Natur.Sie machte es sich gemütlich und las sich schnell ein. Als ihr klar wurde, worum es in der Geschichte ging, stellte sie das Buch wieder in das Regal. Mit feuchten Augen. Sie fragte sich, wie viele Kinder heute noch in irgendwelchen Medien sterben mussten. Von Löwen gefressen, vom Krebs zerfressen, für sie machte das einen nur geringen Unterschied. Es nagte an ihr, und unweigerlich musste sie über den Tod sinnieren, über den Tod von Kindern.Sie hatte schon einige schlimme Krankheiten ihrer Schützlinge mit überstanden. Einen Todesfall hatte es unter ihren Schülern bisher nicht gegeben. Sie hoffte, dass dies so bleib, denn sie war nicht sicher, einen solchen ohne bleibende Schäden überstehen zu können. Ihr Blick wanderte zu ihrem zarten Kind mit seinen rosigen Wangen. Das würde sie garantiert nicht überstehen. Sie wurde mit jeder Minute trauriger und ängstlicher und sah sich nur noch von Tod und Krankheit und Gewalt umgeben. Sie musste schleunigst raus.Obwohl die Kleine noch schlief, packte sie das Kind in die Babyschale, nahm den Griff in die Ellenbogenbeuge und marschierte los. Sie winkte einem freien Taxi, dass auch sogleich am Bordstein hielt. Das Anschnallen musste sie selbst übernehmen, die deutsch aussehende Taxifahrerin hatte von dieser Art Kindersitzen keine Ahnung, sie wollte das Kind sogar in Fahrtrichtung hineinsetzen.„Viel Grün, wenig Menschen, weite Plätze, aber sanitäre Anlagen und ein wenig Gastronomie, haben sie eine Idee?“Die Taxifahrerin überlegte nicht lange, bevor sie antwortete: „Sicher, da wäre der Britzer Garten, das Gelände der ehemaligen Bundesgartenschau, kostet Eintritt, dafür schön sauber. Zweitens, eigentlich nicht viel weiter, der Tierpark in Friedrichsfelde, die kommunistische Antwort auf den Zoologischen Garten in Berlin West. Schön und weitläufig. Eintritt kostet auch. Und die Gärten der Welt in Marzahn. Kostet ebenfalls.“„Tierpark, bitte.“ Sie kannte alle drei der Berliner Ausflugsziele, im Tierpark war sie ewig nicht mehr gewesen, außerdem hatte sie von einem Elefantenbaby dort gehört. Als Kind war sie oft im Berliner Zoo gewesen, sie hatte tolle Erinnerungen daran, aber heutzutage bestanden diese Erinnerungen aus viel zu vielen Leuten, Menschenmassen, die sich durch den artenreichsten Zoo der Welt kämpften wie Raver auf der Love Parade. Flächenmäßig war der Zoo ein Witz gegen den Tierpark. Für sie glich der Berliner Zoo einem Volksfest, während der andere für sie einen Ort der Erholung darstellte.Plötzlich dachte sie an die Löwen. Es gab dort Löwen, das wusste sie. Sie hatte also ein Video, eine Realität, gesehen, in dem ein Kind, im Alter ihrer Tochter, von einer Löwin zerfetzt wird. Und jetzt fuhr sie genau an eine der äußerst wenigen Stellen in dieser Stadt, wo es auch Löwen gab. Gab es einen Zusammenhang oder spielten ihre Nerven nur verrückt? Der Druck in ihrem Kopf nahm zu, sie bekam Kopfschmerzen.Stau an allen Ecken und Enden, das Navigationsgerät korrigierte fortwährend die Route. Es dauerte länger, als Sandra lieb war, die Verbindungen von Ost nach West und umgekehrt waren auch fünfundzwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung eine Zumutung. Als sie durch Oberschöneweide fuhren, ging ihr die Verballhornung ‚Oberschweineöde“ durch den Kopf, kurz darauf waren sie auf der Treskowallee und wenige Minuten später am Ziel.Der Park war noch viel größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Zunächst wollte sie um die Raubkatzen einen Bogen machen, doch schließlich schalt sie sich feige und sie betrachteten auch die eleganten Vierbeiner. Als der Löwe seinen Kopf hob, sah Sandra ganz deutlich seine Sprungmöglichkeiten, dem Gehege zu entweichen und eine Panik erfasste sie kurzzeitig, doch zu ihrem Glück sah das Tier eben jene Brücke in die Freiheit nicht.Völlig entkräftet wartete sie dreieinhalb Stunden später auf ihr Taxi, um den Kinderwagen in dessen Kofferraum zu verstauen und wiederum die Gurtpflicht für ihre Tochter durchzusetzen. Als sie bei Dennis ankam, roch sie noch vor dem Aufschließen der Haustür das Essen, welches er in der Küche zubereitete. Natürlich hatte sie einen Schlüssel von Dennis bekommen, obwohl sie einen weiteren Schlüssel zu Hause hatte, aus ihrer gemeinsamen Zeit.Er stand in der Küche und kochte, er sah gutgelaunt aus. Der Wein war offen, die Abzugshaube rauschte, das Radio lief und die Töpfe köchelten. Schnitzel und Spargel an lauwarmen Kartoffel-Gurken-Salat, selbstgemachte Sauce Hollandaise und verschiedene, bunte Salate. Ihr lief das Wasser im Munde zusammen und sie war ziemlich sicher, alles mit gutem Gewissen essen zu dürfen. Trotzdem hatte sie noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen.Durch ihre spontane gute Laune, die der Duft des Essens und die Atmosphäre in ihr hervorrief, war sie dann weniger heftig, als sie sich vorgenommen hatte. Sie ging zu ihm in die offene Küche und stellte sich unmittelbar vor ihn.„Dennis, was hast du da für einen Scheiß auf deiner Festplatte?“ Die Szene spielte sich wieder in ihren Kopf und sie bekam eine Gänsehaut.
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Hinzugefügt: 6 Jahren vor