Kleine Cornelia

(dbk) Endlich waren die Schulstunden zu Ende und alle stoben hinaus ins Freie. Wir gingen in eine Privatschule, die doch erhöhte Ansprüche an uns stellte – wir mussten uns dort mehr anstrengen und das wäre besser für unsere Zukunft, behaupteten zumindest meine Eltern. Vielleicht war das der Grund, weshalb wir uns so ungestüm verhielten während wir auf den Zug warteten, der uns nachhause brachte. Vielleicht aber waren wir auch nicht lebhafter als Kinder mit dreizehn Jahren eben sind. Michael aus der Parallelklasse hatte mich mit einem Schneeball beschossen und ich startete die Revanche. Dabei rutschte ich aus und stürzte auf die Geleise, direkt vor den einfahrenden Zug. Als ich wieder zu mir kam, saß meine Mutter neben mir. Sie weinte. Warum brummte es in meinem Kopf so schrecklich? Ach ja, ich war gestürzt! Was war bei diesem Sturz eigentlich passiert, fragte ich meine Mutter. Habe ich dabei etwa die schöne Jacke zerrissen, die ich erst zu Weihnachten bekommen hatte? Das war doch kein Grund zum Heulen. Ja, sagte sie, die Jacke ist auch zerrissen. Jetzt besah ich meine Hände. Unter Verbänden konnte man Hautabschürfungen erkennen. Ich hätte eine Gehirnerschütterung, sagte mir meine Mutter, dann stockte sie. „Die Beine habe ich mir wohl auch gebrochen,“ fragte ich, „die tun ganz schön weh!“ Meine Mutter schluchzte auf: „Cornelia, du hast keine Beine mehr!“ presste sie nach einer Weile hervor. Keine Beine mehr? Ich spürte sie doch ganz deutlich. Mit dreizehn begreift man die Tragweite einer solchen Veränderung noch nicht so sehr. Die Beine waren eben weg und ich würde damit schon zurechtkommen. Natürlich umhegten und umpflegten mich meine Eltern und auch mein Bruder, von dem ich mich sonst meist sekkiert fühlte, war mit einem Mal nett und hilfsbereit. Ich genoss es, dass sich nun alles um mich drehte. Anfangs fand ich es auch sogar fast noch als lustig, mit meinem Rollstuhl durch die Gegend zu sausen. Ich konnte nicht ahnen, wie überdrüssig mir dieses Gefährt noch werden würde. Dieser Zustand stellte sich auch alsbald ein. Schon wenige Wochen nach dem Unfall hatte ich das ewige sitzen müssen satt. Ich wollte stehen und gehen. Schnell wurde ich mit der Weisheit konfrontiert, dass man nicht behindert ist, sondern behindert wird. Überall Barrieren. Die Schule hatte keinen Aufzug, ich musste mitsamt meinem Rolli ins Klassenzimmer hochgetragen werden. Die Toilette benützen war eine akrobatische Übung. Ich hatte früher gar nicht bemerkt, mit wie vielen Stufen und schmale Türen die Umwelt ausgestattet war. Wo man mit dem Rollstuhl nicht hinfahren konnte, war für mich plötzlich unerreichbar, auch wenn es nur wenige Meter waren. Ich konnte deshalb auch nicht mehr außer Haus, wann immer ich wollte. Die fünf Stufen zum Windfang waren auf einmal ein unüberwindbares Hindernis für mich! Anfangs brauchte ich sogar Hilfe, wenn ich auf die Toilette musste. Das alles ließ mich bald ekelhaft werden, ich wurde reizbar, manchmal unausstehlich. Eine harte Prüfung für mich, hauptsächlich aber für meine Familie. Doch was nützten meine Launen, mehr und mehr wurde mir klar, dass die Beine nicht mehr nachwachsen werden, auch wenn ich noch so wütend bin. Bis an mein Lebensende würde ich nun nur diese kurzen Wukis haben und ich musste zusehen, wie ich damit zurechtkam. Die Schmerzen in den Stümpfen waren längst vergangen, sieht man von den manchmal auftretenden Phantomschmerzen ab. Ich war jetzt sechzehn und meine Stümpfe bereiteten mir wieder Qualen, diesmal aber in einer anderen Art. Die anderen Mädchen in meinem Alter wurden nun von den Jungs umschwänzelt und sie kokettierten auch heftig mit ihnen. Nur mich umschwänzelte niemand. Aus der anfänglichen Anteilnahme war Spott geworden. Ich hatte mitbekommen, dass ich für die Jungs nun nur noch die „Stumpfi“ war – wenn sie überhaupt von mir redeten. Der einzige, der mich beachtete war Michael, jedenfalls war er der einzige Junge, von dem ich das Gefühl hatte, dass er mich beachtet. Leider war er, wann überhaupt an mir interessiert, unendlich schüchtern. Wahrscheinlich bildete ich mir sein Interesse auch nur ein, vielleicht war es nur Mitleid, war er es doch, dem der verhängnisvolle Schneeball gegolten hatte. Mein erstes Erlebnis mit Burschen war bald nach meinem Unfall, gerade zu der Zeit, wo ich endlich mit dem Rolli umzugehen gelernt hatte. Ich glaubte, ich sei die Weltmeisterin im Rollstuhl fahren. So gefiel es mir anfangs auch, dass die Jungs in der Horde Mitschüler, mit denen ich am Nachhauseweg war, mit mir herumalberten. Regelrechte Rennen veranstalteten sie mit mir. Im Park steht ein großer runder Tisch aus Granit. Als sie mich mitsamt meinem Rolli da hinaufhoben, fand ich das ja auch noch spaßig. „He, tanze für uns,“ johlte ein Junge und ich wirbelte mit meinem Rolli herum und fuhr mit affenartiger Geschwindigkeit einen Kreis, knapp am Rand des Tisches, alles zum Gaudium der herumstehenden Mitschüler. Dann verloren sie ihr Interesse an mir. Auf einmal schob einer nach dem anderen ab. „He, ihr könnt mich da heroben doch nicht stehen lassen,“ schrie ich, aber sie lachten nur und weg waren sie. Da stand ich nun mit meinem Rolli auf der Tischplatte und wusste nicht, wie ich da jemals hinunterkommen würde. Ein älteres Ehepaar kam des Weges und erkannte meine missliche Lage. Ich kletterte aus dem Rollstuhl und der Mann stellte ihn auf den Boden. Dann musste ich diesen Wildfremden meine Arme um den Hals legen, damit er mich in den Rolli heben konnte. Mir wurde zum ersten Mal schmerzlich klar, dass ein Mädchen ohne Beine den Burschen höchstens zum Gaudium diente. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Ich werde es in einem eigenen Kapitel (3) berichten. Wenigstens meine Freundinnen hielten zu mir. Es war schön, so etwas wie ein Trost, wenn sie sich für mich Zeit nahmen. Manchmal taten sie mir aber auch ohne Absicht weh, wenn sie sich die tollen Schuhe oder die kessen Strumpfhosen zeigten, die sie bekommen hatten. Es deprimierte mich auch, dass eine nach der anderen immer öfter von Burschen begleitet wurde, wenn sie kamen und meinen Rolli schoben. Außerdem hatten sie dann immer weniger Zeit für mich. So vergingen die Jahre. Es war naheliegend, dass ich mich zur Physikothe****utin ausbilden ließ und bekam eine Anstellung im Therapiezentrum in der von uns nächsten Stadt. Die Fürsorglichkeit meiner Mutter wurde für mich immer schwerer zu ertragen. Sie ließ mir kaum eine Selbständigkeit. Bei Allem und Jedem eilte sie mir zu Hilfe, egal ob ich Hilfe brauchte oder nicht. Ich beschloss, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Meine Mutter war entsetzt. Unmöglich! Wie sollte ihre kleine Cornelia ohne Beine allein in einer Wohnung zurechtkommen? Mein Vater war von dieser Idee auch nicht begeistert, aber er unterstützte eher mein Vorhaben. Er erkannte, dass ich nicht mehr das kleine, hilflose Mädchen war. Mein Bruder war überhaupt der Einzige, der mich so behandelte wie ich es mir wünschte. Niemals kam ihn der Gedanke, dass ich anders sei als andere Mädchen und es war selten, dass er mir Hilfe anbot. Es war leichter zu ertragen, wenn er gelassen zusah wie ich mich wegen meiner fehlenden Beine irgendwo abquälen musste, als die übertriebene Fürsorglichkeit meiner Mutter. Sechs Jahre hatte ich ja nun schon keine Beine mehr, Zeit genug, um sich damit zurechtzufinden. Fast möchte ich sagen, ich hatte mich daran gewöhnt, keine Beine zu haben. Natürlich wollte ich manchmal nicht mehr, wollte einfach nur wieder normal gehen können. Ich war es Überdrüssig, immer sitzen zu müssen. Also ließ ich mir Prothesen anfertigen. Mit denen konnte ich zwar wieder gehen, musste mich aber dennoch auf zwei Stöcke stützen. Vom Rollstuhl war ich gewöhnt, die Hände frei zu Haben. Waren die Stöcke nicht eine noch größere Behinderung? Als meine Stümpfe dann von den Prothesen auch noch wundgescheuert wurden, stellte ich sie in die Ecke und kehrte ein für alle Mal in den Rolli zurück. Ich musste der Besorgtheit meiner Mutter entfliehen und fand eine Wohnung in der nächstgelegenen Kleinstadt, ganz in der Nähe meines Arbeitsplatzes. Nun konnte ich diesen allein mit dem Rollstuhl erreichen und meine Mutter brauchte mich nicht mehr täglich mit dem Auto hinfahren. Die Wohnung lag im vierten Stock, direkt im Stadtzentrum. Ein bequemer Lift brachte mich hoch. Im unteren Geschoß war ein kleiner Supermarkt, in dem ich die Dinge des täglichen Bedarfs einkaufen konnte. Außerdem befand sich ein kleines Café im Erdgeschoß, in dem ich mir nach der Arbeit meist noch eine kleine Belohnung gönnte. Auf den ersten Blick sah es in meiner Wohnung nicht anders aus als bei anderen auch. Ich hatte sie teilmöbliert übernommen und für das, was ich noch brauchte, schossen meine Eltern zu. Nur ein aufmerksamer Beobachter hätte gemerkt, dass die oberen Regionen der Möbel nur spärlich genutzt waren. In der Küche hatte ich einen Hocker, mit dem ich, wenn es sein musste, auch die Arbeitsplatte erklimmen konnte. Von dort aus erreichte ich auch das meiste in den Hängeschränken. Vom Rolli aus erreiche ich eben nur jenes, was man im Sitzen erreichen kann. Ich habe auch gelernt, mich auf eine Armlehne zu setzen, dann komme ich etwas höher. Fast alle Arbeiten die im Haushalt anfallen, erledige ich selbst. Es war ein Kampf, meine Mutter davon zu überzeugen! Sie hat erst akzeptiert, als wir uns einigten, dass sie die Fenster putzen darf. Abstauben, staubsaugen, waschen, bügeln, alles kein Problem für mich. Manche Sachen hat mein Vater ein wenig an meine Bedürfnisse angepasst. So ist etwa das Gestell des Bügelladens nur dreißig Zentimeter hoch. Badewanne und Dusche ist in einem. Mein Bruder hat mir einen Sitz besorgt, der in den Rändern der Badewanne eingehängt ist und hat eine zweite Halterung für den Brausekopf montiert. So muss ich nicht in die Wanne hineinklettern und habe den Duschkopf in Reichweite. Eines Tages war in der Küche die Deckenlampe kaputt. Mich packte der Ehrgeiz, ich wollte die Glühbirne selber austauschen. Also ging ich in das Fachgeschäft (natürlich fuhr ich mit dem Rolli, aber das ist für mich eben gehen) und kaufte mir Glühbirnen und eine Aluminium-Haushaltsleiter. Die haben nicht schlecht geguckt als ich sie bat, alles zu mir nachhause zu liefern, weil ich noch heute die Glühbirne tauschen will. „Sie?“ fragte der Verkäufer ungläubig mit einem Vielsagenden Blick auf meine Beinstummeln. Aber er packte die Leiter samt mir in den Lieferwagen, fuhr das kurze Stück zu mir heim und trug mir die Leiter hinauf in die Wohnung. Ich bat ihn, sie gleich in die Küche zu stellen. Auch bot er mir an, die Glühbirne auszutauschen. „Danke,“ sagte ich großspurig, „das geht schon!“ Ich sah an der Leiter empor, es war für mich schon ein ganz schönes Stück da hinauf! Die neue Glühbirne gab ich in einen Einkaufsbeutel, hängte mir diesen um und begann den Aufstieg. Es ging besser als ich dachte. Ich musste mich bloß auf den längeren Stummel stellen, dann erreichte ich mit dem kürzeren die nächste Sprosse. Es ging langsam, aber Sprosse für Sprosse kämpfte ich mich hoch. Oben angekommen tauschte ich die Glühlampe und machte mich an den Abstieg. Zum ersten Mal sah ich hinunter, oh Gott, war das hoch! Nicht auszudenken, wenn ich da hinunterstürze! Den Bammel den ich nun bekommen hatte trug dazu bei, dass der Abstieg nun nicht mehr so einfach war wie das Hinauf. Aber ich kam wieder gut am Fußboden an. Nun war ich aber noch nicht fertig, ich musste die Leiter irgendwo verstauen, in der Küche konnte sie nicht bleiben. Ich überlegte, ob es mit oder ohne Rolli leichter ist und entschied mich für mit. Nur so konnte ich die Leiter umlegen und sie irgendwie in mein Abstellzimmer transportieren. In der Wohnung benutze ich nämlich den Rolli so wenig wie nur möglich. Nach acht Stunden darin sitzen ist man froh, wenn man ihn in die Ecke stellen kann. Ich bewege mich dann mithilfe meiner Hände fort und die Bewegung tut dann richtig gut. Wie ich auf einen Sessel komme oder auf die Hocker in der Küche, nun, diesen Dreh hatte ich bald heraus. Man ist ohne Beine gar nicht so hilflos wie viele glauben, man muss nur manches anders machen. Ich glaube, wenn ich querschnittgelähmt wäre, wäre es viel schlimmer, dann müsste ich ja meine Beine überallhin nachziehen. So aber behindern mich keine Beine und ich bin sogar um das Gewicht von zwei Beinen leichter und daher beweglicher. Im Therapiezentrum war ich ja mit anderen Leuten zusammen, abends in meiner Wohnung fühlte ich mich alleine dann doch oft sehr einsam. Manchmal ging mir meine Familie schon ab. Ich vermisste dann etwas Wärme und Geborgenheit. Da war das kleine Café gerade richtig, um noch ein wenig unter Leuten zu sein. Immer öfter sehnte ich mich nach einer männlichen Ergänzung. Dabei dachte ich nicht unbedingt an ein sexuelles Zusammensein, sondern einfach an den intellektuellen Austausch. So um die Zwanzig hat man sich noch nicht daran gewöhnt, für die Männerwelt einfach nicht zu existieren. Ich hielt mich für einigermaßen hübsch, sind Beine für Männer wirklich so wichtig? Ein älterer Kollege ahnte nicht wie weh er mir tat, wenn er seine Späße trieb. „Wenn deine Beine länger wären…,“ „Wenn deine Beine nicht so pummelig wären…,“ waren Aussprüche, von denen er glaubte, dass ich sie für lustig halte. Aber auch die Kolleginnen, die mich immer unterschwellig bedauerten, waren mir letztlich keine Hilfe. Ich kann ja ganz gut leben ohne Beine. Nach so vielen Jahren hält man es für ganz selbstverständlich, keine Beine zu haben. Man kann sich eben an alles gewöhnen. Ja, sicher, es gibt Situationen, in denen man gerne wieder welche hätte. Das kam zu dieser Zeit meist dann vor, wenn einem ein gut aussehender Mann mitleidige Blicke zuwarf.So im April oder Mai, je nach Wetterlage, stellt Carly, der Inhaber des kleinen Cafés unten an der Ecke, Tische und Stühle vor seinem Lokal auf. Dann kann man bis in den Herbst hinein heraußen sitzen und die Passanten beobachten. Fast immer sitze ich nach der Arbeit dort und genieße je nachdem Kaffee, Eis oder Limonade. Carly sieht mich immer schon von weitem und nimmt einen Stuhl von „meinem“ Tisch, damit ich gleich mit dem Rolli heranfahren kann. Was soll ich machen? Soll ich etwa vorbeigehen, wenn Carly so freundlich ist? Ich sitze am liebsten so, dass ich den Platz vor mir beobachten kann. Allerdings sehe ich aber nicht, wer aus der Straße hinter mir kommt. Ich erschrak daher als mich von hinten jemand ansprach: „Hallo Stumpfi!“ Bei dieser Anrede kam gleich mein Blut in Wallung. „Verzeih,“ korrigierte sich sogleich der Lümmel, „Grüß dich Cornelia!“ Dabei kam er um den Tisch herum. „Michael!“ trotz meiner Verärgerung war ich erstaunt, ihn zu sehen. Er entschuldigte sich nochmals für seine Ungehörigkeit und bekam dabei einen hochroten Kopf. Das versöhnte mich einigermaßen, ich war sogar innerlich amüsiert. Ohne zu fragen setzte sich Michael mir gegenüber und überschüttete mich mit Fragen. „Wie geht es dir? Was hast du nach der Schule gemacht? Was machst du jetzt? Wo arbeitest du?“ Ich erzählte und erzählte und beantwortete brav alle seine Fragen. Vermutlich erwähnte ich dabei auch, dass ich fast jeden Tag um diese Zeit hier bin. Ich musste an diesem Tag noch meine Wäsche bügeln und verabschiedete mich irgendwann, bedankte mich für sein Angebot, mich nachhause zu schieben und lehnte ab, da ich ja nur dreißig Meter weiter vorne wohne. Er ließ es sich aber nicht nehmen, meinen Kaffee zu bezahlen. Zuhause beim Bügeln wurde mir bewusst, dass Michael nun alles über mich, ich aber kaum etwas über ihn erfahren hatte. Wie dumm von mir! War ich etwa schon so männernärrisch, war mein Bedarf schon so groß, dass ich ihm willig die Gesprächsführung überließ? Ich hatte ja gar nicht bemerkt, dass ich nur über mich erzählte und selber kaum Fragen stellte. Nur so viel, dass Michael jetzt wieder in dem Haus am Stadtrand bei seinen Eltern wohnte, hatte ich erfahren. Am nächsten Tag saß Michael schon an „meinem“ Tisch als ich von der Arbeit kam. Carly zuckte etwas hilflos mit den Schultern wie er es immer tat, wenn jemand auf „meinem“ Platz saß. Ich lachte aber nur und bat ihn, dennoch den Stuhl wegzunehmen. Heute würde ich das Gespräch führen. Michael hatte eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht und jetzt am örtlichen Krankenhaus eine Anstellung bekommen. Bisher hatte er keine Zeit, sich um eine Freundin umzusehen, behauptete er. Mir war aber nicht entgangen, dass er noch immer so unendlich schüchtern war wie seinerzeit in der Schule. Aber er hatte sich gemausert, er war nun nicht mehr dieser herumblödelnde Junge. Man konnte sich gut mit ihm unterhalten. Wann immer es nun sein Dienst zuließ, erwartete er mich in unserem Café. Wir unterhielten uns über dieses und jenes und mit der Zeit lief Michael warm. Ende Mai wurde es sehr heiß und ich riskierte es, einen Rock anzuziehen. Auch wenn er sittsam meine Stümpfe bedeckte war er doch kühler als eine Hose. Ausgerechnet an diesem Tag erkundigte sich Michael, ob mir meine Stümpfe Probleme bereiten – Schmerzen oder so. Narben könnten ja auch Schmerzen verursachen, das weiß er von seiner Arbeit, sagte er. Naiv wie ich war lüftete ich meinen Rock – nicht zu sehr – und zeigte ihm meine Beinstummeln. Er betastete sie und meinte, dass sie erstaunlich wenige Narben aufweisen. Es fiel mir auf, dass sein Atem dabei schwer ging und seine Hand zitterte. He, ist da einer der es übersieht, dass meine Beine schon weit vor den Knien endeten? Aber sicherlich war es nur, weil er sich das vor wenigen Tagen vor lauter Schüchternheit noch nicht getraut hätte. Bei einem dieser Meetings waren wir so ins Gespräch vertieft, dass wir das aufziehende Gewitter glatt übersahen. Dann ein Blitz, ein Donnerschlag und es goss in Strömen. Ich rettete mich in die Passage, durch die ich zu meiner Haustüre komme. Michael hatte einen alten Golf mit Fetzendach welches er schleunigst zumachen musste. Heute war ich dran und hatte längst bezahlt als Michael endlich das Dach zu hatte. Er kam her und wollte sich verabschieden. Der Arme war klitschnass, so wollte ich ihn nicht heimfahren lassen, er hätte sich sicher dabei verkühlt. Ich bot ihm an, Hemd und Hose in den Wäschetrockner zu stecken. Also kam er mit in meine Wohnung. Wie gewöhnlich stellte ich meinen Rolli in die „Kramkammer“ und begab mich zu Boden. Michael hatte inzwischen, wenn auch zögernd, im Wohnzimmer Hemd und Hose ausgezogen. Er bekam große Augen als ich so mit den Händen über den Fußboden hoppelnd ins Zimmer kam. Ich bemerkte es sofort, entschuldigte mich und erklärte ihm, dass ich es zuhause eben so gewöhnt bin. Er soll mir sein Gewand geben, ich könne dann ja mit dem Rolli wieder zurückkommen. „Nein, nein,“ stieß er mit belegter Stimme hervor, ich solle mir keine Umstände machen und einfach so tun wie immer. Also kehrte ich in derselben Art zurück, nachdem ich die Wäsche in den Trockner gegeben hatte. Ein kleiner Schwung und ich saß Michael in der Sitzecke gegenüber. Krampfhaft hielt er die Beine übereinandergeschlagen. „Na, Schamgefühle?“ ätzte ich. Er verneinte und versuchte nun, sich normal hinzusetzen. Oh! Das war also der Grund! Michaels Hose beulte an einer bestimmten Stelle mächtig aus! Wie das – doch nicht etwa wegen mir? Ich war ja sittsam angezogen und wegen einer beinlosen hat noch niemand eine Erektion gekriegt – glaubte ich. Schön wäre es ja gewesen, Michael war genau der Mann, der verstandesmäßig zu mir passte. Vielleicht sollte ich ihn von seinem harten Horn erlösen? Aber nein. Die Enttäuschung wäre dann noch größer, wenn er sich doch einmal eine mit zwei hübschen Beinen findet. Am Ende würde ich ihn eher vertreiben als gewinnen. Ich ertappte mich aber dabei, wie ich mich am Abend im Bett streichelte und dabei meine Stümpfe betrachtete. Könnte ein Mann überhaupt zum Höhepunkt kommen, wenn er keine festen Schenkel in seinen Seiten spürt? Wieder einmal bekümmerte mich, keine Beine zu haben. Das Eis war gebrochen und Michael war jetzt öfters bei mir in der Wohnung. Dadurch kamen wir uns gefühlsmäßig sehr nahe. Immer tiefere Einblicke gewährten wir uns gegenseitig in unser Seelenleben. Bis sich Michael einmal zu einem Geständnis durchrang. Der Schneeball hatte doch ihm gegolten, der mir die Beine gekostet hatte. Daher war er auch tief betroffen von dem Unglück, er fühlte sich so etwas wie mitschuldig, zumindest war er mitbeteiligt. Als er mich dann das erste Mal im Rollstuhl sah, stieg in ihm ein Gefühl auf, das er nicht deuten konnte. Es war aber keinesfalls Bedauern, eher eines, welches sonst bei Jungen beim Anblick nackter Frauen aufkommt. Dieses Gefühl ließ ihn nie mehr los. Hätte er so mit sechzehn doch nur gewusst, wie er mich ansprechen sollte! In seinen erotischen Phantasien waren es immer beinamputierte Frauen, die seine Gedanken beflügelten! Der Anblick seiner beinlosen Mitschülerin Cornelia brachte ihn schließlich auf die Idee, Krankenpfleger zu werden. Dabei konnte er mich nicht vergessen. Als ihm seine Eltern einmal sagten, dass ich jetzt auch in der Stadt wohne, hat er alle Hebel in Bewegung gesetzt, um an unserem Krankenhaus eine Anstellung zu bekommen. Es konnte keine einstudierte Phrase sein als er sagte, nie könne er mit einer anderen zusammen sein als mit mir. Er sei froh, dass wir uns zuerst auf der geistigen Ebene gefunden haben, sonst würde ich vielleicht glauben, er möchte mich ausnützen oder es sei Mitleid oder sonst irgendwas. Zuerst wusste ich nicht was ich sagen sollte. „Aber Michael, häng dich doch nicht an eine Behinderte!“ wandte ich dann ein. „Weißt du,“ erklärte er mir, „es müssen zwei Umstände zusammenspielen, damit ein Mann eine Frau ehrlich begehrt. Erstens müssen sie in ihren Interessen übereinstimmen, zweitens müssen sie einander gefallen. Nur dann kann daraus Liebe entstehen. Über den ersten Punkt sind wir uns einig. Bezüglich gefallen hast du ja mitgekriegt, dass es gerade die Tatsache, dass du keine Beine hast ist, die mich enorm erregt. Dass du auch noch hübsch bist und eine gute Figur hast, betrachte ich sozusagen als Draufgabe.“ Ich war sprachlos. Ja, es stimmt, wir haben ziemlich ähnliche Standpunkte und Interessen. Vielleicht habe ich ein hübsches Gesicht, aber eine gute Figur? Wie kann man eine gute Figur haben, wenn man schon seit Jahren im Rollstuhl sitzt und dadurch der Hintern breiter wurde? Was ist erregend an zwei kümmerlichen Beinstümpfen? Ich war total verwirrt. Das war der Grund, warum ich es zuließ, dass sich Michael für seine Offenheit entschuldigte und die Wohnung verließ. Michaels Dienstplan kannte ich bereits auswendig. Ich hatte mir das kurze Kleid angezogen, das Michaels Hormone immer so durcheinanderbrachte. Mit klopfendem Herzen wartete ich im Café, aber Michael kam nicht. Als ich es nicht mehr aushielt, rief ich ihn an und fragte, wo er denn heute bleibt. Ich bemühte mich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. „Legst du darauf noch Wert?“ fragte er. Ich sagte ihm, ich müsse unbedingt mit ihm reden. Kurze Zeit später war er da. Heute hielten wir uns nicht lange im Café auf, so schnell wie möglich übersiedelten wir in meine Wohnung. Vor lauter Aufregung blieb ich entgegen meiner Gewohnheit im Rolli sitzen. Michael machte mich darauf aufmerksam. Ich flitzte in die Kramkammer und kehrte so schnell ich konnte ins Wohnzimmer zurück. Diesmal setzte ich mich nicht Michael gegenüber, sondern neben ihn. Unübersehbar die Beule in seiner Hose. War das wirklich wegen mir? Konnte ich wirklich mit meinen Wukis dasselbe hervorrufen wie bei einer anderen zwei hübsche Beine? Wir begannen zu schmusen. Zum ersten Mal in meinem Leben knöpfte mir ein Mann ein Kleid auf und betastete die Ansätze meiner Brüste. Auch ich öffnete sein Hemd und zog es ihm aus. So eine schöne, kraftvolle Brust! Ehe ich zum Schauen kam, war mein BH weg. Stürmisch entledigte er mich vollständig meiner Oberbekleidung. Er kniete sich vor mir hin und begann meine Stümpfe zu küssen. Seine Hände fuhren hoch zu meinem Höschen. „Nicht hier,“ flüsterte ich, „komm mit ins Bett!“ Er hob mich hoch und trug mich hinüber ins Schlafzimmer. Dort warf er mich aufs Bett und riss sich seine Hosen herunter. Mein Gott, so ein Ding war ja größer als ich geglaubt hatte! Ich kam aber nicht viel zum Schauen. Flugs hatte er mir auch mein Höschen ausgezogen. Michael stellte sich ans Bettende und betrachtete mich. Ob ich ihm gefiel? Wie empfand er meine Brüste – zu groß, zu klein, fest genug? Hoffentlich war ihm mein Schamhaar nicht zu spärlich. So oft hatte ich überlegt, wie ich mich verhalten soll, falls mich doch einmal ein Mann beachtet. Wie waren meine Stümpfe dabei am unauffälligsten? Jetzt hatte vor lauter Aufregung gar nicht darauf geachtet, wie ich dalag, mich ihn präsentierte. Ich lag ich am Rücken und hielt unwillkürlich meine Stummeln leicht angehoben und etwas gespreizt, sodass sie den Blick frei gaben auf meine Scham. Michael stürzte sich auf mich und vergrub erst einmal seinen Kopf zwischen meinen Stümpfen. Einundzwanzig Jahre hat es also gedauert, bis ich meine Jungfernschaft loswurde! Unsere Gefühle schwelgten hoch über den Wolken. Und dass ich keine Beine habe war noch dazu der Schokoladeboden unter unserem Überschwang der Verliebtheit. Nie hätte ich geglaubt, dass mich ein Mann ohne meine Beine noch viel mehr liebt als wenn ich welche hätte! In diesem Moment liebte ich meine Stümpfe, waren sie doch der eigentliche Grund, warum auch Michael zum ersten Mal mit einer Frau – mit mir – zusammen war! Verhütung war bisher für mich kein Thema. Wir trieben es jetzt aber ziemlich ausgiebig und holten alles nach was wir in den Jahren zuvor versäumt hatten. Dass ich nicht gleich schwanger wurde, hat mich ziemlich verwundert. Wir schmiedeten aber Pläne für eine gemeinsame Zukunft und da war vor einem Kind erst der Nestbau vorgesehen. Meinem Hausarzt war es zu riskant, mir einfach irgendeine Pille zu verschreiben. Ich müsse schon zuerst einen Facharzt aufsuchen. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich zum Frauenarzt! Der würde mich kaum im Rollstuhl untersuchen, wie aber sollte ich in diesen gynäkologischen Stuhl kommen? Er würde mich dort wohl nicht hineinheben. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich in den Untersuchungsstuhl hinaufwinden, dem Arzt ein Schauspiel der besonderen Art bietend. Nein, Michael musste mitkommen. Ich war froh, dass Michael mich dort hineinhob. Zum ersten Mal kam ich mir blöd vor mit meinen Stummeln. „Sehen sie, die Beine gehören hier in diese Stützen. Tun sie so als ob sie Beine hätten und sie hier hineinlegen würden,“ verlangte der Arzt. Dabei wirkte er ein wenig hilflos, sicherlich hatte er noch nie eine Frau ohne Beine zu untersuchen gehabt. Oh Gott, dachte ich, ohne Hilfe komme ich da nie wieder heraus! Mir fiel ein, was mir mein Bruder einmal angetan hatte. Er und ich waren allein zuhause und wie meistens – wir stritten. Soll ja unter Geschwistern manchmal vorkommen. Mit einem Mal hob mich mein Bruder hoch und setzte mich auf die Anrichte im Wohnzimmer, neben der wir uns gerade befanden. Dann drehte er seelenruhig um und verließ die Wohnung. Jetzt war ich die Dumme! Für jemanden mit Beinen kein Problem. Die Anrichte war viel zu hoch, als dass ich ohne solche von ihr auf den Fußboden runtergekonnt hätte. Auch eine andere Möglichkeit gab es nicht. Da saß ich nun wie eine Gefangene. Erst als meine Eltern nachhause kamen „befreite“ mich mein Vater. War ich froh, als ich mich wieder ankleiden und meine Arme um Michael schlingen konnte. Beinahe behutsam hob er mich vom Untersuchungsstuhl in meinen Rolli. Also gut, ich bin beinamputiert, das kann man nur schwer kaschieren, höchstens mit Prothesen. Aufgrund meiner negativen Erfahrungen kamen sie für mich aber nicht infrage. So bemühte ich mich bisher eben anderweitig, nicht allzu sehr aufzufallen. Damit war jetzt Schluss. Michael bedrängte mich, meine Stümpfe zur Schau zu stellen – ihm zuliebe, wie er immer bettelte. Mir war es peinlich, aber es war eben etwas Besonderes und ich gab seinem Drängen nach. So saß ich im Sommer dann mit einem dünnen Minikleid in meinem Rolli, welches nicht nur die Stümpfe nicht verdeckte, sondern die Gefahr bestand, auch noch mehr preiszugeben. Was tun denn meine Freundinnen? Sie zeigen ja auch her, was sie haben, betonen ihre hübschen Beine. Ich habe Stümpfe, Michael ist vernarrt in sie. Warum also sollte ich sie nicht herzeigen? Unangenehmer war es schon im Bad. Auf der Decke wäre ich ja gar nicht so aufgefallen, wenn der blöde Rolli nicht danebengestanden wäre. Es ist aber alles nur eine Sache der Gewöhnung. Die Leute gaffen ohnehin, also sollten sie auch ordentlich was zu gaffen haben. Michael war entzückt, als ich in meiner Art, also mithilfe der Hände zum Schwimmbecken hinüber ging. Alle waren hingerissen, wie die Beinlose wieder aus dem Wasser kam. He, da gab es ja eine noch bessere Show! Aufreizend kletterte ich mit meinen Stümpfen über die Beckenleiter heraus. Michael war fürs Erste zu mir gezogen. Das war für mich eine große Veränderung. Bisher war ich immer alleine, aber jetzt war Michael da. Nie hatte ich mir vordem Gedanken darüber gemacht, dass ich eigentlich immer am Fußboden herumkroch. Jetzt war da aber einer neben mir mit eins achtzig! Ich habe jetzt jemand zum Reden, muss aber dabei meist zu ihm hinaufschauen. Wenn ich so am Boden saß, kam mir Michael noch größer vor. Wie groß wäre ich eigentlich, wenn ich Beine hätte? Ich war deprimiert. Es war ja schön, dass Michael so auf meine Stümpfe abfuhr. Aber könnte ich nicht doch bei Bedarf Beine haben? Warum war ich dazu verurteilt, immer wie eine Schnecke am Boden herumzukriechen? Immer sitzen, sitzen, sitzen! Ich erzählte Michael meinen Kummer. „Hast du schon einmal versucht auf deinen Stümpfen zu gehen?“ fragte er. „Natürlich, habe ich. Aber erstens bin ich damit auch kaum größer und zweitens kann man das kaum gehen nennen. Meine Stümpfe sind nicht ganz gleich lang und darum komme ich nicht weit.“ Trotzdem nahm mich Michael bei den Händen um mir Halt zu geben und ich wackelte wie ein kleines Kind, das gehen lernt, durchs Zimmer. Solche Spielchen rufen dann bei Michael eine massive Erektion hervor, na ja, man kann sich denken, wie es dann immer endet. Bei einem anderen Erlebnis wäre ich wirklich froh gewesen, mit meinen Stümpfen gehen zu können. Michael half meinem Vater im Haus. Es war ein wunderschöner Wintertag. Der Himmel hing schwer und bleigrau über der schneebedeckten Landschaft. Ich konnte nichts tun, also machte ich mich auf zu einem Spaziergang. Nicht weit von meinem Elternhaus führt ein asphaltierter Radweg den Bach entlang. Ich hatte Glück, durch die schwarze Asphaltdecke war der meiste Schnee weggeschmolzen und ich kam mit meinem Rolli gut vorwärts. Vor einer kleinen Senke hielt ich an. Sollte ich weitergehen? Am Rückweg muss ich mich dann den Hügel heraufplagen. Ein bisschen Anstrengung wird mir nicht schaden, dachte ich und rollte den schattigen Hügel hinunter. Im Winter habe ich Handschuhe mit einer speziellen Handinnenfläche, um die Räder gut antreiben und bremsen zu können. Ohne sie würde es mir auch die Finger abfrieren. Vorsichtig rollte ich hinunter. Ich hatte aber nicht bemerkt, wie vereist der Weg hier war. Ich kam ins Schleudern und konnte nicht mehr steuern. Der Rolli stellte sich quer und blieb am Ende der Rutschpartie abrupt im Schnee stecken. In weitem Bogen flog ich aus dem Stuhl und kollerte die Böschung hinunter. Zum Glück fing mich der Pulverschnee auf, sodass ich mich nicht verletzte. Kurz lag ich etwas benommen im Schnee, dann sah ich zum Weg hinauf. Es war nicht weit, nur ein kurzes Stück, nur ein paar Schritte. Nur ein paar Schritte, wenn man Beine hatte. Wie würde ich da hinaufkommen? Ich musste es versuchen. Ich robbte zur Böschung und versuchte sie hinaufzuklettern. Aber mit meinen Stümpfen, die in einer dicken Hose steckten, fand ich im Schnee keinen Halt und nur mit den Händen allein ging es auch nicht. Immer wieder versuchte ich es, ohne Erfolg. Langsam packte mich die Verzweiflung. Wieso kam niemand vorbei, der mir hätte helfen können? Nur fünf Minuten Beine! Nur solange, bis ich oben bin! Oder mit diesen kurzen Wukis ein bisschen Halt finden. Zehn, fünfzehn Meter weiter bachaufwärts war die Böschung nicht mehr so hoch und dort stand auch ein Busch. Ich robbte durch den tiefen, pulverigen Schnee. Beim Herumwackeln mit den Beinstummeln scharrte ich immer ein wenig Schnee weg. Irgendwie schaffte ich es, den Strauch zu erfassen und mich daran hochzuziehen. Die Böschung war hier nur ein bisschen flacher, es reichte aber um wenigstens ein Stück hinaufzukommen. Ich umrundete den Strauch und konnte nun verschnaufen. In den Ästen fand ich mit meinen Stümpfen endlich Halt. Dann nahm ich, angetrieben durch meinen Erfolg, auch das letzte Stück in Angriff. Noch einmal musste ich mich gewaltig plagen, dann war ich oben am Weg. Den Rolli auf den Weg zurückzubekommen war dann schon ein Leichtes. Ich schwang mich in den Rollstuhl und sah zum Bach hinunter. Zum Glück war wenig Wasser im Bachbett, sonst wäre ich auch noch klitschnass geworden. Kein normaler Mensch kann ermessen, was mir ohnehin abverlangt wurde um wieder heraufzukommen. Drei, vier Schritte, mit den Händen ein wenig mitgeholfen und man ist heroben. Nicht aber, wenn man keine Beine hat. Es war eines der seltenen Erlebnisse, durch die ich den Tag verfluchte, an dem mir der Zug die Beine abgetrennt hat. So, wie werde ich den vereisten Hügel nun wieder hinaufkommen? Jetzt kam endlich ein Ehepaar mittleren Alters daher und der Mann bot mir an, mich hinaufzubefördern. Warum konnten die nicht früher kommen? Jedenfalls nahm ich die Hilfe dankbar an. Michael ist das einzige Kind seiner Eltern. Wir waren zu ihnen übersiedelt, denn sie boten uns an, ihr Haus aus- und umzubauen. Meine Mithilfe beim Ausbau beschränkte sich zunächst auf Baumaterial bestellen und dafür sorgen, dass es rechtzeitig da ist, Arbeiter auftreiben oder Rechnungen prüfen und einzahlen. Wie gern hätte ich auf der Baustelle mitgearbeitet! Natürlich konnte ich mit dem Rolli nicht in die Baugrube, ich wollte aber unbedingt einmal.Seitlich der Kellererweiterung war eine Rampe angelegt, die einmal den Stiegenaufgang aufnehmen sollte. Michael hatte sie etwas mit Schotter aufgeschüttet. Das war meine Chance! Ich zog mir ein altes Leibchen und eine alte Short an, die ich nachher gleich wegwerfen konnte. Ich war endlich einmal alleine zuhause und so konnte ich unbemerkt auf meinen Händen in die Grube hinuntersteigen – na ja, es war mehr ein kriechen. Ohne Beine ist man klein wie ein Zwerg und für mich sahen von dort die Erdwälle noch höher aus. Der Keller war tief in den Lehmboden gegraben und ich schlaues Ding war ausgerechnet am Tag nach einem Regenguss in die Grube hinabgestiegen! Da unten versank ich beinahe im Dreck. Nichtsdestotrotz wühlte ich herum, war ja schon egal und ich hatte ja ohnehin altes Gewand an. Ich krabbelte erst wieder heraus, als ich genug gesehen hatte. Oben angekommen sah ich an mir hinunter. Ich war mit Lehm paniert. Ja, ich werde die Kleidung wegwerfen, dennoch musste ich mich erst vom Gröbsten reinigen. Aber wie? So konnte ich unmöglich, nicht einmal nackt ins Haus! Nicht nur an Händen und Gesäß klebten dicke Lehmklumpen. Die streichfähige Masse hatte sich auch durch die kurzen Hosenbeine gedrückt, sogar bis unter das Höschen und zwar reichlich. Erst einmal streifte ich die Hände im Gras ab. Dann, was blieb mir anderes übrig, heraus aus der Short. Jetzt saß ich das im Gras und mein Höschen wurde nur unzureichend vom Leibchen bedeckt. Ich versuchte den Lehm mit den Händen abzustreifen. Die Lehmmasse klebte wie Katzenkot an mir und ließ sich nicht abstreifen, nur gleichmäßig über den ganzen Körper verteilen. Ich spürte sie sogar schon an ganz bestimmten Körperöffnung. Hätte ich Füße, so könnte ich ganz einfach die Stiefel ausziehen und ins Haus gehen. So aber saß ich halbnackt und voll bekleckert in der Wiese. Es half alles nichts, der Gartenschlauch musste her. Ich konnte ein paar Umgänge aus seiner Halterung herausschütteln. Der Wasserhahn war gerade ein bisschen zu hoch für mich. Meine Wukis sind zwar ziemlich mini, nachdem ich mich auf sie gestellt hatte, konnte ich den Hahn gerade halt aufdrehen. Brr, war das Wasser kalt! Mit dem kalten Wasser war auch nicht viel herunterzubringen. Ich sah mich um. Nein in diesen Teil des Gartens konnte niemand einsehen. Also herunter mit dem Leibchen und zum Waschlappen umfunktioniert. Es blieb mir nichts anderes übrig, ich musste auch das Höschen ausziehen um wenigstens das Ärgste abwaschen zu können. Ich reinigte mich mit dem kalten Wasser gerade so viel, dass ich ins Haus konnte ohne eine Dreckspur zu hinterlassen. Wie angenehm war dann das warme Wasser in der Badewanne! Beim Innenausbau konnte ich dann schon mehr mithelfen. Ich kehrte zusammen und fasste den Bauschutt in die Schiebetruhe. Dabei saß ich immer in einer mächtigen Staubwolke, aber mit einer Atemschutzmaske ging das ganz gut. Endlich konnte ich mitarbeiten! Die Böden von Toilette, Bad und Vorraum wurden mit Fliesen ausgelegt. Dafür war ich gerade richtig! Michael hatte mir gezeigt wie es ging und warum soll eine Frau nicht Fliesen legen können? Ich musste ohnehin immerzu sitzen und mir waren beim Fliesenlegen keine Beine im Weg. Michael schaffte die Fliesen herbei, schnitt sie zu und rührten den Kleber an. Ich weiß, dass er entzückt war, mich da am Boden herumrutschen zu sehen. Just als ich endlich auch auf der Baustelle mitarbeiten konnte, passierte ein kleiner Unfall, der leicht schlimme Folgen hätte haben können. Ich fuhr mit meinem Rolli vom Einkaufen nachhause und überquerte auf einem sehr belebten Platz eine Kreuzung. Auf dem Schutzweg übersah mich ein Autofahrer und knallte gegen meinen Rollstuhl. Zum Glück, muss ich heute sagen, flog ich aus dem Rollstuhl auf das harte Straßenpflaster. Denn als ich nach dem Rollstuhl sah, war der zu einem Rohrknäuel zusammengequetscht. Da saß ich nun am Asphalt und mein Rolli war nur noch ein Schrotthaufen. Wie Interessant! Da saß nun eine junge Frau ohne Beine auf der Straße. Ich tat ihnen auch noch den Gefallen und krabbelte zurück auf den Gehsteig. Da hatte sich mein Unfallgegner so weit von seinem Schock erholt, dass er mich zusammenklaubte und auf den Rücksitz seines Wagens setzte. Einen neuen Rollstuhl kauft man nicht wie ein paar Semmeln. Fast eine Woche war ich nicht mobil! Ich hatte Glück im Unglück, mein Unfallgegner war nicht nur ein sehr höflicher Herr, dem sein Missgeschick und die Folgen für mich nahe gingen, er war auch noch wohlhabend. So kam ich zu einem Faltrollstuhl mit Elektroantrieb! Ein weiterer Glücksfall war, dass es nicht einige Monate später passiert war. Unser Heim war soweit fertig, dass wir eingezogen waren. Wir hatten nun Platz und für mich war alles notwendige behindertengerecht hergerichtet. Endlich war es nun auch soweit, ich konnte Michael sagen, dass unsere ausschweifenden Liebesspiele nicht ohne Folgen blieben…

Kleine Cornelia

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